Anne Nordby – Kalter Strand

Anne Nordby: "Kalter Strand"

 

1

Freitag, 21. Oktober
Markus sieht auf die Uhr. Zum wievielten Mal, weiß er nicht. Und eigentlich ist es auch egal, wie spät es ist. Jetzt zählt nur das Eine.
Er blickt zum dunklen Fenster des Ferienhauses hinüber, das aussieht, als würde es vom herabhängenden Reetdach verschluckt werden. Die Lichter dahinter sind vor gut einer Stunde erloschen, die Familie ist längst zu Bett gegangen. Vater, Mutter und drei Kinder. Das Auto, ein schwarzer VW-Bus, steht vor dem Haus. Deutsches Kennzeichen, Aufkleber mit den Namen der Kinder auf dem Heck. Hannes, Maja und Celine.
Markus fröstelt. Aber nicht nur wegen des Windes, der erneut auffrischt. Der dünne Danebrog am Fahnenmast neben dem Haus beginnt im Dunkeln zu flattern. Ablandiger Wind, denkt Markus abwesend. Sein Griff verkrampft sich um die Signalfackel in seiner Hand. Der Geruch von Benzin vermischt sich mit dem des Strandgrases und des Salzwassers vom Ringkøbing Fjord.
Wieder ein Blick auf die Uhr. Wieder ist es egal, was sie anzeigt. Der Zeitpunkt für das, was er tun muss, steht nicht auf dem Ziffernblatt. Den hat ein anderer bestimmt.
Markus betrachtet das Ferienhaus genauer. Ein weißes langgestrecktes Gebäude mit wuchtigem Reetdach. In regelmäßigen Abständen streift der Lichtkegel des Leuchtturms das Haus, in der Ferne hört Markus ein Auto über den Holmsland Klitvej fahren. Das Rauschen nimmt zu und wieder ab und verstummt schließlich. Eine vage Erinnerung an eine Welt, die Markus längst verlassen hat. Eine Welt aus Straßen und Lichtern. Aus Städten und Häusern, in denen Menschen behaglich auf Sofas sitzen, in Räumen erfüllt vom bläulichen Leuchten der Fernsehgeräte, dem Duft des Abendessens und dem Knacken des Holzes im Kamin. Warmes Urvertrauen. Wie sehr er sich nach diesen unscheinbaren Alltäglichkeiten sehnt. Aber er steht draußen und sie sind da drinnen. Er harrt in der Kälte aus und sie schlafen in der Geborgenheit. Er wird sich nie mehr geborgen fühlen. Egal, wie dieser Tag ausgehen wird.
Markus hebt die Hand mit der Signalfackel. Bengalisches Feuer. Rot.
Er denkt an Fußballstadien, an Raketen zu Silvester. Kinderlachen.
Doch das hier ist anders. Das ist der Tod.
Er schraubt die Schutzkappe vom Anzündkopf der Fackel ab. Sein Herz schlägt kalt. Seine Finger zittern. Die Kappe fällt auf den Boden in die Lache aus Benzin. Vier Kanister hat er rund um das Haus und darüber ausgeschüttet. Es tröpfelt leise vom Dach, rinnt die Mauern hinab und sickert ins welke Gras.
Alles ist leicht und gleichzeitig so schwer.
Er muss nur die Fackel anzünden und fallen lassen. Nichts weiter. Das Benzin würde sein Übriges tun. Rasend schnell würde alles brennen. Das Reetdach. Das Haus. Die Familie darin.
So soll es sein.
Tod für Leben.
Keine Fragen nach dem Warum. Die sind ihm längst ausgegangen. Es gibt nur noch das Hier und das Jetzt. Das Drinnen und Draußen. Kalt und warm. Feuer und Freiheit.
Markus zittert jetzt am ganzen Körper. Seine Kiefermuskeln verkrampfen sich, die Zähne knirschen. Der Benzindunst brennt in seinen Augen. Er widersteht dem Drang, erneut auf die Uhr zu sehen. Stattdessen blickt er sich ein letztes Mal um. Dunkle Ferienhäuser mit schlafenden Menschen darin, dahinter das ruhende Meer aus Dünen. Über ihm spannt sich der Sternenhimmel, von dem unzählige kleine, mitleidslose Augen auf ihn herabsehen. Immer wieder wird die Nacht vom kreisenden Takt des Leuchtfeuers durchschnitten. Ein unermüdlicher Wegweiser für Seefahrer. Eine Warnung. Markus möchte loslaufen, selbst der Gefahr entkommen. Aber er weiß, dass es nichts nutzen würde. Es gibt kein Entkommen. Nicht für ihn.
Der Geschmack von Benzin legt sich auf seine Zunge. Er schluckt ihn herunter. Seine Kehle ist trocken, seine Muskeln in Armen und Beinen zucken unkontrolliert. Es wird schlimmer. Er muss es tun. Jetzt.
Rasch reißt er die Fackel an. Grell leuchtet sie auf. Qualm bildet sich und hüllt Markus in einen dichten Schleier, verdeckt für einen Moment die Sicht auf die Welt. Dann ist sie wieder da. Die Welt. Aber auch die Verzweiflung und der unbändige Wunsch nach Leben.
Der Wind treibt den Qualm in die Nacht hinaus. Markus beobachtet, wie er sich mit der Dunkelheit vereint.
Der Geschmack in seinem Mund ist jetzt ein anderer.
Es ist Angst.
Er muss es tun.
Bevor die Angst ihn wieder im Griff hat.
Er gibt seinen Fingern den Befehl, die glühende Fackel fallen zu lassen.

2

Eine Woche vorher – Samstag, 15. Oktober
Tom Skagen sieht belustigt auf die Torte, die auf seinem Büroschreibtisch steht. Eine Pistole, gefüllt mit Buttercreme und Kirschen, überzogen mit skandinavischer Lakritzkuvertüre. 38 Kerzen brennen darauf. Skagen bläst sie aus.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, rufen seine Kollegen von Skanpol und schieben ein großes, in buntes Papier eingewickeltes Paket in sein Blickfeld. Eine rosa Schleife prangt obenauf. Rosa!
Alle beginnen im Rhythmus zu klatschen. »Auspacken. Auspacken. Auspacken.«
Skagen umfasst feierlich die Schleife. Hoffentlich ist da nicht so ein Blödsinn drin wie letztes Jahr. Eine kleine Spielzeugdrohne, mit der man sein Handy fliegen lassen und Luftaufnahmen machen kann. Der letzte Schrei. Skagen schickt damit manchmal Post-its durch das Büro. Statt E-Mails. Ansonsten ist das Teil zu nichts zu gebrauchen.
»Nun mach schon, Tom!« Jens Fram, sein norwegischer Kollege, klopft ihm aufmunternd auf die Schulter. Skagen arbeitet erst seit knapp zwei Jahren bei Skanpol, einer in Hamburg ansässigen Unterabteilung von Europol, und wird deshalb noch oft »der Neue« oder »der Lütte« genannt. Er mag seine Kollegen, ein kleines, verlässliches Team, das in ganz Skandinavien unterwegs ist. Eine Top-Mannschaft auf Deck. So hätte er es in seinem vorherigen Leben genannt. Doch das ist vorbei.
»Das ist aber kein Saufgutschein für die Reeperbahn oder ein Datingportal-Abo, oder?«, fragt Skagen. Auf solch einen Scheiß hat er keinen Bock. Er genießt sein ruhiges Singledasein, und das soll auch so bleiben.
»Wir verraten nichts.« Jette Vestergaard, Skagens Chefin und Leiterin der Abteilung Skanpol, zwinkert ihm zu.
Mutig zieht Skagen an der Schleife und schält das Paket aus dem Papier. Eine braune Pappschachtel kommt zum Vorschein. Zu klein für eine Gummipuppe, zu groß für ein Konzertticket. Wer hat das Geschenk wohl besorgt? Jens oder Jette? Oder war es Kaisa mit ihrem finnischen Humor?
Mit geschürzten Lippen pult Skagen das Klebeband ab, klappt die Papplaschen auf und guckt in das Paket. Kleine Styroporbälle als Füllung. Skagen wühlt darin herum. Nichts. Die Schachtel ist leer. »Sehr witzig, Leute.«
»Es liegt ganz unten, unter der Füllung.« Fram grinst. Sein breites Gesicht ist rot vor Freude. Womit sich die Frage, wer das Geschenk gekauft hat, erübrigt.
Skagen steckt erneut seinen Arm in das Paket und fischt auf dem Grund. Schließlich zieht er einen flachen Gegenstand heraus. Eine LP. Vorn auf dem Cover ist ein ziemlich blauäugiger älterer Herr mit Kapitänsmütze abgebildet.
»›La Paloma‹ von Hans Albers. Na, jetzt ist meine Plattensammlung endlich komplett.« Zynisch hebt Skagen eine Braue. Klar, er ist immerzu auf der Suche nach alten und auch neuen Schallplatten, aber Hans Albers …? Nee.
»Freust du dich nicht?«, fragt Jens.
»Also wisst ihr … Das ist nett, nur …«
»Magst du als alter Seebär etwa keine Seemannslieder?« Kaisa macht ein enttäuschtes Gesicht.
»Doch, ich meine, nein … Ich …«
»Guck doch mal rein«, fordert Jens ihn auf. Seine blauen Augen leuchten mit denen vom alten Hansi um die Wette.
Skagen zieht die Platte aus dem Cover und lässt sie aus der Schutzhülle in seine Hand gleiten. Er liest den Titel. Liest ihn noch mal, und um seinen Mund zuckt ein stilles, dankbares Lächeln. Obwohl seine Kollegen ihn erst seit zwei Jahren kennen, ist es die Platte, nach der er seit Ewigkeiten sucht. Die Originalpressung von »Who can you trust?«, dem ersten Album von Morcheeba, seiner Lieblingsband. Skagen kippt die LP an und lässt Licht auf ihre gerillte Oberfläche fallen. Keine Kratzer. Sie ist makellos.
»Seht ihn euch an, unseren schweigsamen Schweden«, sagt Jette und lacht trocken.
»Gerührt isser.« Kaisa streicht Skagen über den Rücken. »Alles Gute, Lillebror.«
»Leider haben wir keinen Plattenspieler hier im Präsidium, um sie uns anzuhören«, sagt Jens. »Da musst du uns die Scheibe wohl heute Abend auf deiner Geburtstagsparty vorspielen.«
Skagen hatte gar nicht vor, eine Party zu veranstalten, aber wenn man ihn so nett darum bittet. Verlegen streicht er sich über den Bart. »Mann, echt. Leute. Das ist cool. Vielen Dank!«
»Wusste ich es doch, dass wir unserem Lütten damit eine Freude machen. Und jetzt hab ich Hunger.« Jens Fram nimmt ein Messer und nähert sich der Torte, schneidet den Lauf der Pistole in mundgerechte Happen. Buttercreme quillt hervor.
Auf einem Schreibtisch klingelt das Telefon, Jette geht dran. »Vestergaard, Skanpol Hamburg.« Ihre Stimme geht im einsetzenden Gemurmel der Kollegen unter, die bereits mit der Planung der Party beschäftigt sind.
»Ich bringe einen Kasten Astra mit«, bietet Jens an, doch Kaisa winkt ab.
»Bäh, das Zeug ist ungenießbar. Ich bin mehr für Beck’s.«
»Verräterin!«
»Ach was.« Kaisa knufft Jens in den Oberarm.
»Wie wär’s mit Staropramen«, schlägt Skagen vor, um die Wogen zu glätten. »Davon hab ich noch was da.«
Kaisa und Jens sehen ihn an. Dann nicken sie.
»Okay«, sagt Kaisa. »Und was essen wir? Pizza oder Köttbullar?«
»Ich würde sagen, gar nichts.« Jette gesellt sich zu ihnen. »Die Party fällt leider aus.« Auf ihrem Gesicht liegt starrer Ernst und sie hat diesen Überstundenblick aufgesetzt, den alle fürchten. Wen trifft’s wohl diesmal?
»Och nö.« Kaisa wirft die Hände hoch und seufzt. »Heute ist doch Samstag. Ich hab eigentlich gar keinen Dienst. Ich bin nur wegen Toms Geburtstag gekommen.«
»Wir haben ein Tötungsdelikt an einer unbekannten Deutschen in Dänemark in Verbindung mit Drogen. Zwei von uns müssen da hin.« Jette sieht jeden in der Runde direkt an, landet bei Skagen. »Tom. Das ist eine Sache für dich und mich. Tut mir leid um deinen Geburtstag.«
Skagen zuckt mit den Schultern. Er hat es bereits geahnt. Jette ist Dänin, und er, Skagen, spricht neben Schwedisch sehr gut Dänisch. »Schon gut. Wann geht’s los?«
»Heute noch. Fahr nach Hause und pack ein paar Sachen zusammen. Wir werden mit Sicherheit einige Tage vor Ort sein.«
Skagen betrachtet mit wehmütiger Miene die Schallplatte. Schließlich schiebt er sie zurück in die Schutzhülle und legt sie so behutsam auf den Schreibtisch, als wäre sie aus Glas. »Wohin geht’s?«
»Nach Ringkøbing.«
»Details?«
»Später.« Jette nimmt ihre Umhängetasche vom Stuhl. »Ich hole dich bei dir ab. Sagen wir, in einer Stunde?«
Skagen nickt.
Jette verabschiedet sich, und als sich die Bürotür hinter ihr schließt, seufzt Kaisa auf. »Mann, das ist ja blöd. Ausgerechnet an deinem Geburtstag. Sorry, Tom.«
»Schon okay.«
»Ach, der ist doch froh, dass er um die Party rumkommt.« Jens’ Hand kracht so unvermittelt auf Skagens Rücken, dass er husten muss. »Na, dann viel Spaß mit der Chefin!« Er wirft Skagen einen mehrdeutigen Blick zu, bevor er sich ein Stück Torte in den Mund stopft.
Eine Stunde später hält Jettes schwarzer Audi vor dem Haus, in dem Skagen wohnt. Er wirft seine Reisetasche in den Kofferraum und setzt sich auf den Beifahrersitz. Schweigend fahren sie Richtung Stellingen zur A7. Es ist 11:15 Uhr und ein leichter Wind treibt kleine weiße Wolken über Hamburg. Licht und Schatten wechseln einander ab. Laub fegt über die Straße. Es wird Herbst, denkt Skagen schwermütig.
Als sie auf die Autobahn auffahren, wird ihr Vorankommen jäh gestoppt.
»So ein Mist. Stau«, seufzt Jette.
»Beginn der Herbstferien in Hamburg, Brandenburg und Hessen«, entgegnet Skagen trocken.
»Und alle wollen nach Norden. Daran habe ich gar nicht gedacht. Na, das kann ja heiter werden.«
»So haben wir wenigstens genug Zeit, um über den Fall zu reden.«
»Okay, zumindest über das, was ich bis jetzt weiß.« Jette setzt den Blinker und wechselt die Spur. Sie wirkt gereizt, ihre Bewegungen fahrig. Sie wedelt mit einer Hand in der Luft. »Also, bei den Kollegen in Ringkøbing wurde heute Morgen um acht ein Leichenfund gemeldet. Am Strand in der Nähe von Hvide Sande wurde eine tote Frau gefunden. Das liegt rund 25 Kilometer südlich von Ringkøbing entfernt und ist ein beliebter Urlaubsort. Besonders bei den Deutschen. Dort gibt es mehr Ferienhäuser als Einwohner. Holmsland Klit nennt sich die Landzunge, sie trennt den Ringkøbing Fjord von der Nordsee. Der Fjord ist eher ein großer See, so wie … Aber was erzähle ich dir? Du bist Seemann, du kennst die Nordsee bestimmt wie deine Westentasche.«
»War.«
»Was?«
»Ich war Seemann.«
»Okay, okay, du warst.«
Skagen sieht, wie Jette ungeduldig mit den Augen rollt, und er ergänzt: »Ich war hauptsächlich auf dem Mittelmeer, dem Roten Meer und im Indischen Ozean unterwegs. Reederei Merkur. Containerschiffe. Die richtig großen Pötte.«
»Ja, weiß ich ja«, zischt sie.
Skagen mustert seine Chefin von der Seite. Was hat sie auf einmal? Vorhin im Büro war sie noch so entspannt. Außerdem hat sie gerade erst mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter Urlaub gemacht. Zwei Wochen Kreta. Da kann man doch nicht jetzt schon so gestresst sein. Sie hätte ja an ihrer Stelle jemand anderen nach Dänemark schicken können, anstatt selbst zu fahren.
»Erzähl weiter«, fordert er Jette auf. »Wer ist das Opfer? Die Tote am Strand?«
»Eine junge Frau, um die 25. Sie wurde sehr wahrscheinlich vom Meer angespült. Sie hat keine Papiere bei sich, kein Handy.«
»Woher wissen die Kollegen dann, dass sie Deutsche ist?«
»In ihrer Jackentasche waren deutsche Euromünzen, die Jacke selbst ist von einer deutschen Modemarke. Die Schuhe auch.«
»Mehr nicht?«
»Doch. Da gab es noch so eine kleine Karte mit deutscher Aufschrift: ›Wollen Sie Ihr Auto verkaufen?‹ Du weißt schon, diese Dinger von schmierigen Gebrauchtwagenhändlern, die ständig hinterm Scheibenwischer klemmen.«
»Und was ist mit den Drogen?«
»Die Tote hatte mehrere Tütchen mit Heroin und Ecstasy bei sich.«
»Eigenbedarf oder eine Dealerin?«
»Keine Ahnung. Das wird sich noch herausstellen.«
»Und wer hat die Leiche gefunden?«, fragt Skagen weiter.
»Ein Jogger. Ebenfalls ein deutscher Urlauber.«
»Wie lange lag sie im Wasser?«
Vor ihnen bremst unvermittelt ein Auto, und Jette steigt auf die Bremse. Ihr dunkler Pferdeschwanz wippt vor und zurück. Wütend schlägt sie auf das Lenkrad. »Verflucht noch mal. Diese verdammten Ferienfahrer!« Sie stößt laut Luft aus und wirft Skagen einen entschuldigenden Blick zu. »Tut mir leid, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, es gibt noch keine Erkenntnisse darüber, wie lange die Leiche im Wasser lag. Schätzungsweise ein paar Tage, mehr nicht. Der Körper ist wohl recht gut erhalten. Die Ergebnisse der Obduktion kommen erst noch.«
Skagen sieht auf die vor sich hin kriechende Blechschlange auf der Autobahn, von der sie nun ein Teil sind. Eine kleine, in der Herbstsonne blinkende Metallschuppe. »Und dass es sich dabei um Mord handelt, ist sicher?«
»Die Frau hat unverkennbar Würgemale am Hals. Wahrscheinlich von einem Lederhalsband.«
»Also Todesursache Erdrosseln?«
»Ist anzunehmen.«
Eine Tote aus dem Meer. Skagen wird mulmig zumute. In seinem Magen beginnt es zu vibrieren, sein ganzes Inneres zuckt wie unter leichten Stromstößen, und seine Handflächen werden feucht. Schnell legt er sie in den Schoß und dreht sich zum Seitenfenster. Sein kantiges Gesicht guckt zurück. Blonder Bart, graue Augen, wetterfester Teint. Ein Bilderbuch-Hanseat, so nennt ihn seine Schwester. Das Abziehbild eines jungdynamischen Enddreißigers. Ein Polizist mit Leib und Seele. Dabei grenzt es an ein Wunder, dass er den psychologischen Einstellungstest bei der Polizei überhaupt bestanden hat. Und jetzt ist er ausgerechnet zu einer toten Frau unterwegs, die das Meer angespült hat.

3

»Welches Haus ist es?« Stefanie Schneider lehnt sich auf dem Beifahrersitz vor und späht durch die Frontscheibe.
»Das da. Das mit dem Reetdach und den weißen Mauern. Nummer 59.« Erleichtert zeigt Markus auf das Ferienhaus, das zwischen Wildrosenbüschen und Dünenwällen in einer Reihe baugleicher Gebäude steht. Eine lang vergessene Erinnerung sprudelt an die Oberfläche. Sand zwischen den Zehen, der Geruch nach Seetang und Quallen und das Gefühl von glatten Kieselsteinen in der Hand.
»Super, Papa«, ruft Jonas vom Rücksitz. »Und eine Schaukel gibt es auch.«
Markus Schneider lenkt den Wagen auf den Parkplatz und stellt den Motor ab. »Wir sind daaaa.«
»Jaaaa!«, antworten alle im Chor. Die kleine Ina lacht vergnügt. Zum Glück hat sich ihre Laune wieder gebessert. Auf der Fahrt von Hamburg hierher ist sie ziemlich unleidlich gewesen. Und dann noch dieser blöde Stau …
Markus schickt ein müdes Lächeln zu seiner Frau hinüber und schnallt sich ab. »Wer hat Lust, unser Piratennest in Augenschein zu nehmen? Auf geht’s.«
Sie befreien Sohn und Tochter aus ihren Kindersitzen und gehen gemeinsam auf ihr Urlaubsdomizil zu. Die Ferienhaussiedlung liegt nicht weit entfernt von den großen Dünen, hinter denen sich der Strand und das Meer verbergen. Der Strandhafer raschelt und die Seeluft weht ihnen um die Nase, über ihren Köpfen kreisen Möwen. Immer wieder lächelt die Sonne zwischen den Wolken hervor. Für Mitte Oktober ist es erstaunlich mild.
»Guck mal, Papa. Ein Hund.« Jonas zeigt auf einen Golden Retriever, der vom Nachbargrundstück auf sie zugelaufen kommt. Er streckt ihm eine Hand entgegen.
»Geh nicht zu nah ran«, mahnt Markus. »Fremde Hunde streichelt man nicht einfach so.«
Ein schriller Pfiff erklingt und ein: »Bosco, hierher!«
Markus hebt den Kopf. Ein Mann mit grauem Vollbart und Daunenweste steht vor dem Nachbarhaus. Er hält eine Leine in der Hand. »Bosco. Na los, komm her.«
Der Hund dreht ab und rennt schwanzwedelnd zu seinem Herrchen zurück. Der Mann leint den Retriever an und hebt anschließend grüßend einen Arm. »Keine Angst, Bosco ist total kinderlieb. Aber neugierig wie ein Waschbär. Entschuldigung.«
»Kein Problem«, ruft Markus zurück und beobachtet, wie der Mann den Hund in sein Ferienhaus bringt.
»Schatz, mir wird kalt. Schließt du bitte die Tür auf?« Stefanie schlingt beide Arme um ihren Oberkörper und kneift ein Auge zu. Ihr blondes Haar weht im Wind. Ina imitiert ihre Geste.
Mit einem Lächeln öffnet Markus die Tür zu ihrer Hütte und betritt als Erster einen langen Flur, von dem aus ein geräumiges Bad mit Sauna und mehrere Schlafzimmer abgehen. Der Flur mündet in ein Wohnzimmer mit einem gemütlichen Sofa, Fernseher, Kamin und breiter Fensterfront zur Terrasse. An das Wohnzimmer schließen sich die offene Küche und das Esszimmer an. Eine Holzstiege führt hinauf in einen »Hems«, einen Schlafboden unter dem Dach, wo vier Matratzen liegen. Für die Kinder leider ungeeignet, denkt Markus, da die Stiege viel zu steil ist, zumindest für Ina. Der Rest der Hütte bietet ausreichend Platz und Behaglichkeit für die nächsten zwei Wochen.
»Wo schlafen wir denn?« Jonas rennt aufgeregt um Markus herum. Sein brauner Lockenkopf ist von der Fahrt ganz verwuschelt.
»Wollen wir nicht erst mal auspacken?«, schlägt Stefanie vor. Ina klammert sich an ihre Beine, als flöße ihr die fremde Umgebung Furcht ein. Markus streichelt im Vorbeigehen über ihren Kopf.
»Zuerst die Betten. Wenn wir wissen, wer wo schläft, können wir das Gepäck leichter verteilen. Kommst du mit, Ina? Wir gucken uns alles an.« Markus hält seiner Tochter eine Hand hin und sie lässt sich von ihm in den ersten Raum führen.
»Hmm, das hier hat ein Doppelbett. Ich glaube, das nehmen Mama und Papa, oder?«
Ina schweigt. Im nächsten Zimmer steht ein Hochbett. Jonas turnt schon auf der oberen Matratze herum und testet deren Sprungeigenschaften.
»Na, das sind doch mal ordentliche Piratenkojen.« Markus gibt seinem Sohn mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass er das Herumhüpfen sein lassen soll, bevor er sich zu Ina hinabbeugt. »Ich würde sagen, Jonas schläft oben im Krähennest und du unten in der Kapitänskajüte. Alles klar?«
»Okaykay!«, ruft Jonas.
Ina hingegen kneift unschlüssig die Lippen zusammen. Sie streckt einen Arm aus. »Das Bild da ist gruselig.«
»Was? Das da?« Markus zeigt auf ein etwas überdimensioniertes Acrylgemälde an der gegenüberliegenden Wand. Darauf ist ein abstraktes Gesicht mit riesengroßen, starren Augen abgebildet.
»Ja, es beobachtet uns.«
Markus stößt einen erschöpften Seufzer aus. Die nicht enden wollenden Sonderwünsche seiner Tochter stellen seine Geduld mächtig auf die Probe. »Wir hängen es ab, solange wir hier sind, okay?« Er nimmt das Gemälde vom Nagel und stellt es verkehrt herum in die Nische zwischen dem Schrank und der Wand.
»Nein«, ruft Ina in ihrem besten Kommandoton. »Nicht dahin.«
Markus beißt sich beherrscht auf die Lippen. »Wo dann?«
»Draußen.«
»Du meinst, nicht im Zimmer?«
»Nein, ganz draußen. Draußen draußen.«
»Ina, das geht nicht. Das Bild gehört uns nicht. Es darf nicht kaputtgehen. Ich stelle es auf den Schlafboden unter dem Dach. Dort darfst du sowieso nicht hoch.« Markus trägt das Gemälde ins Wohnzimmer. Stefanie ist bereits dabei, das Gepäck aus dem Auto zu holen. Koffer, Taschen und Spielzeug stapeln sich im Wohnzimmer.
»Die Küche ist super eingerichtet«, ruft sie, während Markus das Bild auf dem Schlafboden verstaut. »Alles da, Geschirrspüler, Kaffeemaschine, Mikrowelle.« Als er die Stiege wieder hinabklettert, steht Stefanie vor ihm. »Was machst du da?«
»Ach, da war so ein Bild. Ina fürchtet sich davor. Ich hab es weggestellt. Es ist wirklich schaurig.« Er schüttelt sich.
»Also, das Haus ist jedenfalls klasse. Schön hell und modern eingerichtet. Das hast du super ausgesucht.« Stefanie drückt ihm einen Kuss auf die Wange. »Und ich freue mich auch schon auf die Sauna heute Abend, wenn die Kleinen im Bett sind. Das wird ein toller Urlaub.«
Markus lacht. Oh ja, die Sauna ist extragroß. Darauf hat er geachtet. Er gibt Stefanie einen Klaps auf den Po und raunt ihr ein paar Unanständigkeiten ins Ohr, die sie kichern lassen. Er weiß, worauf sie steht.
»Wohin mit deinem Angelzeug?«, fragt sie.
»Am besten nach draußen auf die Terrasse.«
»Okay.«
Markus blickt ihr kurz nach. Schließlich wendet er sich ab und geht ins Bad. Voll Vorfreude begutachtet er den hölzernen Innenraum der Sauna. Mehrere lange Bänke, die übereinander angebracht sind, in einer Ecke der elektrische Saunaofen mit Steinen. Gemütlich … und vor allem schalldicht.
Als er die Tür schließt, ertönt plötzlich ein Schrei. Markus läuft aus dem Bad und findet seine Frau bei Jonas und Ina im Kinderzimmer. Offenbar wollte sie gerade die Betten beziehen, denn die Laken liegen auf dem Boden und die Decke auf dem Bett ist zurückgeschlagen. Alle drei starren auf das, was darunter zum Vorschein gekommen ist.
»Ihhh. Was ist das?«, fragt Ina.
»Sieht aus wie eine … Maus.« Stefanie löst sich aus ihrer Starre und beugt sich über das kleine Fellknäuel auf der Ma­tratze.
»Ist sie tot?« Jonas guckt über das Geländer des Hochbettes. Seine Haare hängen wie gekräuseltes Seegras hinab.
»Keine Ahnung. Ich will sie nicht anfassen.«
Markus geht in die Hocke und inspiziert das Tier, stößt es mit dem Finger an. Es ist steif und das Fell verfilzt. »Jep. Die ist tot.«
»Arme Maus.« Ina umklammert wieder Stefanies Bein.
»Wie kommt sie denn dahin?«, fragt Jonas und streicht sich die Haare aus dem Gesicht.
»Keine Ahnung. Vielleicht ist sie ins Bett geklettert und nicht wieder runtergekommen. Ich bring sie raus.«
»Aber nach draußen draußen!«
»Ja, Ina.« Mit spitzen Fingern packt Markus die Maus am Schwanz und hebt sie hoch.
»Du musst sie begraben.«
»Auch das, Ina. Kein Problem.« Markus verlässt das Zimmer und öffnet die Haustür. Die frische Luft ist eine Wohltat. Es riecht nach Meer und Kiefernholz. Nach Urlaub. Markus stapft über das Heidekraut zum Rand des Grundstücks, vergewissert sich, dass ihn vom Haus aus niemand sehen kann, und schleudert die tote Maus in den Strandhafer. Beerdigung vollzogen. Er wischt sich die Finger an der Hose ab und geht zurück. Dabei sieht er, wie am anderen Nachbarhaus die neu eingetroffenen Feriengäste ihr Auto auspacken. Das Nummernschild verrät, dass sie ebenfalls aus Hamburg kommen. Die Familie hat zwei Kinder und einen braunen Terrier, der aufgeregt hin und her springt. Gar nicht schlecht, denkt Markus. Vielleicht können deren Kids ja mit unseren spielen. So wären sie erst mal beschäftigt, und Stefanie und er hätten Zeit für sich.
Vom Eingang aus ruft Markus einen Gruß zu den Nachbarn hinüber, die ihm freundlich zunicken. Dann schließt er die Tür und reibt sich zufrieden die Hände. Bild beseitigt. Maus beseitigt. Der Urlaub kann beginnen.

 

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